»Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt, geht es nochmal so gut, hängt die Juden, stellt die Bonzen an die Wand.«
 
Die Synagogengemeinde Gürzenich ist in vieler Hinsicht typisch für die ländlichen Synagogengemeinden im Kreis Düren. Ihre Mitglieder waren, wie überall, geachtete Mitbürger, integriert in das gesellschaftliche Leben des Dorfes und an seiner Entwicklung genauso interessiert wie die übrigen Einwohner.
Seit 200 Jahren hatten in Gürzenich Juden gelebt, gearbeitet, Handel getrieben, hatten geheiratet, Kinder bekommen und waren schließlich auf dem jüdischen Friedhof beigesetzt worden, oft genug unter Anteilnahme der katholischen Bevölkerung. Sie waren für ihr deutsches Vaterland genauso selbstverständlich in den Krieg gezogen, verwundet und mit Orden ausgezeichnet worden wie ihre nichtjüdischen Altersgenossen. Und sie waren für Deutschland gestorben, wie der 20jährige Josef Heumann aus Gürzenich, der im „Gedenkbuch für die jüdischen Gefallenen des deutschen Heeres, der deutschen Marine und der deutschen Schutztruppen 1914-1918“, herausgegeben vom Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, verzeichnet ist.
Anders als in einer großen Stadt waren die sozialen Bindungen in einer kleinen Gemeinde wie Gürzenich auch zwischen jüdischen und nichtjüdischen Einwohnern sehr viel fester. Die jüdische Gemeinde war zahlenmäßig viel zu klein, um Gefahr zu laufen, sich abzukapseln, wie das in mancher Großstadt der Fall gewesen sein mag.
Im Gegenteil versuchte man von beiden Seiten alles, um die unterschiedliche Religionszugehörigkeit nicht zu einem trennenden Element werden zu lassen. Augenfälligstes Beispiel dafür war die Beteiligung der christlichen Bevölkerung an den Baukosten für die neue Gürzenicher Synagoge, die am 7. September 1906 in einem feierlichen Akt ihrer Bestimmung übergeben wurde. Man nahm gegenseitig an Beerdigungen teil, und von Pfarrer Hecker ist verbürgt, dass er der Witwe des tödlich verunglückten Jonas Jacobs einen Kondolenzbesuch abstattete.
Aus Berichten überlebender Gürzenicher Juden ist zu ersehen, wie eng ihre Freundschaften mit Nachbarn, Mitschülern und Arbeitskollegen waren. Gleichzeitig ist aber auch immer noch ihre Verwunderung darüber spürbar, wie schnell solche Freundschaften unter dem erbarmunglosen Druck einiger weniger zerbrechen können, wie widerstandslos sich die große Masse der Bevölkerung von den blutrünstigen Parolen der Nazis vereinnahmen ließ.
Und bestimmt nicht vergessen können sie jenes Lied, das SA und SS vorzugsweise sonntags auf ihrem Marsch durch das Dorf grölten: „Wenn‘s Judenblut vom Messer spritzt, geht es noch mal so gut, hängt die Juden, stellt die Bonzen an die Wand.“
Es ist ein Zeichen für die Heimatverbundenheit der Gürzenicher Juden, dass sie viele Schikanen und Demütigungen erduldeten und ihr Dorf trotzdem nicht verließen. Selbst nach dem Fanal der Reichspogromnacht, als auch die Gürzenicher Synagoge dem braunen Mob zum Opfer fiel und die männlichen Juden verhaftet und im Gemeindehaus verhört wurden, fanden sie keine Antwort auf die Frage: „Was haben wir Euch getan?“
Immerhin war dies für einige der endgültige Anlass zur Flucht aus diesem Land, das nicht mehr länger ihre Heimat sein konnte. Unter schwersten Bedingungen, teilweise mit Hilfe der wenigen verbliebenen Freunde, gelang der oft illegale Grenzübertritt ins benachbarte Ausland.
Aber auch hier war man nicht sicher. Eine Reihe Gürzenicher Juden ist von Holland aus noch in die Vernichtungslager deportiert worden.