Bernd Hahne, Dürener Geschichtswerkstatt, Vortrag anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Das Auschwitz-Album. Geschichte eines Transportes“ in der Stadtbücherei Düren am 30.08.2005

Sehr geehrter Herr Bürgermeister,
meine Damen und Herren!

Seit Ende der 70er Jahre die amerikanische Fernsehserie „Holocaust“ große Teile der Deutschen mit diesem Thema konfrontierte, hat es eine große Zahl an Veröffentlichungen gegeben, die auf lokaler und europäischer Ebene, in Form von wissenschaftlichen Monographien oder Lebensberichten dieses Thema behandelten.
Es lässt sich wohl mit Fug und Recht behaupten, dass kein Bereich der menschlichen Geschichte so gründlich und intensiv erforscht worden ist wie die Zeit des Nationalsozialismus und die Vernichtung der europäischen Juden. Man sollte also meinen, es sei alles gesagt und alles bekannt.
Wie aber, so fragt man sich, kann es dann sein, dass weite Teile der deutschen Jugend mit dem Namen Auschwitz nicht das Geringste anfangen können? Wie kann es sein, dass eine junge Studentin, die jeglicher rechtsextremistischer Tendenzen vollkommen unverdächtig ist, mir kürzlich in einem Gespräch noch erklärte, sie sei des Themas absolut überdrüssig, jedes dritte Buch im Regal handele davon. Gleichzeitig offenbarte sie in dem Gespräch ein so eklatantes Unwissen, dass ich bezweifeln muss, dass sie überhaupt jemals ein Buch zu diesem Thema gelesen hat.
Was haben wir, denen dieses Thema am Herzen liegt, was haben wir in den letzten 25 Jahren falsch gemacht? Von der unmittelbaren Nachkriegszeit, von den 60er Jahren will ich gar nicht reden, als das Thema konsequent totgeschwiegen wurde, allenfalls im Rahmen der wenigen großen Prozesse Aufmerksamkeit erregte.
Haben wir, wie Martin Walser vor einigen Jahren provozierend formulierte, das Gedenken instrumentalisiert, haben wir uns einer lästigen Pflicht entledigt, um das schlechte Gewissen, das die „guten“ Deutschen seit Kriegsende haben, zu beruhigen?
Solche Formulierungen sind, das ist unzweifelhaft, der Sache und dem guten Willen Vieler vollkommen unangemessen. Und trotzdem müssen wir uns fragen, ob uns Ausstellungen wie die, die hier gezeigt wird, wirklich berühren, ob wir etwas damit zu tun haben, ob Kinder und Jugendliche aus Düren, die diese Bilder sehen, wirklich angesprochen werden, ob etwas in ihnen bewegt wird.
Nun, ich denke, es besteht immerhin die Chance dazu. Aber nur, auch davon bin ich überzeugt, wenn man sie damit nicht allein lässt, wenn man Zusammenhänge erklärt und vor allem, wenn man deutlich macht, dass die gleichen Fotos auch Dürener Jüdinnen und Juden zeigen könnten, also unsere ehemaligen Mitbürger.
Wenn man mit engagierten Fachlehrern spricht, die eine solche zusätzliche Belastung außerhalb des engen Lehrplans auf sich nehmen, dann hört man immer wieder, dass Schüler dann einen besonderen Zugang zu einem Thema gewinnen, wenn sie es mit lokalen Gegebenheiten in ihrer unmittelbaren Umgebung verknüpfen können. Dann erhalten Statistiken und Tabellen, generelle Statements und gezogene Schlussfolgerungen plötzlich ein konkretes Gesicht, werden mit den Sinnen „be“greifbar, entfalten so auch eine emotionale Qualität.
Diese lokalen Bezugspunkte zu suchen und herzustellen ist in einer Stadt wie Düren besonders schwer. Nahezu alles, was uns diese Beziehung durch seine äußere Gestalt ermöglichen oder zumindest erleichtern könnte, ist verschwunden – zerstört im Krieg oder danach. Also müssen solche Bezugspunkte neu hergestellt werden – in all ihrer Unvollkommenheit, die durch die Umstände bedingt ist.
Ein solcher Versuch sind auch die Stolpersteine, mit deren Verlegung vor wenigen Wochen in Düren begonnen worden ist. Sie sind ein Projekt des Kölner Künstlers Gunter Demnig, der damit seit 1996 in vielen Städten nicht nur in Deutschland an die von den Nazis Verschleppten und Ermordeten erinnern will. Jeder seiner mittlerweile mehrere tausend Steine trägt, in eine Messingplatte eingraviert, den Namen eines Menschen, Geburtsdatum und Sterbedatum und -ort – wenn diese Daten noch zu ermitteln waren. Die Steine werden nach Möglichkeit dort verlegt, wo die entsprechenden Menschen zuletzt in Freiheit gelebt haben.
In Düren sind wir mit Gedenk- und Erinnerungsorten, die den Opfern des Nationalsozialismus gewidmet sind, wahrlich nicht im Übermaß ausgestattet. Das gilt besonders, wenn es um konkrete Personen geht, selbst wenn sie stellvertretend für andere stehen sollen. Erst vor wenigen Wochen ist erneut der Antrag gescheitert, den Goebenplatz zur Erinnerung an Max Oppenheim, den letzten Lehrer und Prediger der Dürener jüdischen Gemeinde, umzubenennen. Dies wäre ein kleiner Schritt gewesen, vom Allgemeinen zum Konkreten zu kommen, vom Unverbindlichen zum vielleicht Schmerzhaften. So bleibt es auch in Düren dabei, dass wir zwar mit Straßen und Plätzen an preußische Generäle, an Politiker fast aller Couleur erinnern, aber kein einziges Dürener Opfer des Nationalsozialismus auf diese Weise ehren.
Aus dieser Erkenntnis und Motivation heraus hat der Dürener Initiator der Aktion Stolpersteine, Ludger Dowe, im März 2004 einen Kreis von Menschen zusammengebracht, die sich wie er damit nicht abfinden wollten.
Ziel war es, auch in Düren von Gunter Demnig Stolpersteine verlegen zu lassen, die an historisch möglichst korrekten Stellen an die dort früher, bevor sie von den Nationalsozialisten ermordet wurden, Wohnhaften erinnern sollten. Der Personenkreis, an den erinnert werden sollte, war von vornherein und per Definition nicht auf jüdische Menschen beschränkt, sondern sollte ebenso Angehörige der Arbeiterbewegung, Mitglieder der Kirchen, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, Homosexuelle und andere Opfer des Nazi-Regimes umfassen. Vorläufig ausgeklammert wurden lediglich Euthanasie-Opfer, weil ihrer mit entsprechenden Aktivitäten der Rheinischen Klinik gedacht wird.
Stieß dieser Grundgedanke innerhalb des Initiativkreises auf breite Zustimmung, so erwies sich doch die konkrete Vorbereitung der Durchführung als nicht unkompliziert. Zunächst galt es Gunter Demnig, der nach wie vor jede fremde Hilfe bei der Herstellung und Verlegung der Steine ablehnt und damit u.a. der Gefahr der Kommerzialisierung entgehen will, es galt ihn also zu überzeugen, dass in Düren ein besonders dringender Bedarf bestehe. Nachdem Gunter Demnig sich und seine künstlerischen Aktivitäten Ende November 2004 einem größeren Kreis in Düren vorgestellt hatte, ist es vor allem der Hartnäckigkeit von Ludger Dowe zu verdanken, dass es so relativ schnell zu einer ersten Verlegung in Düren gekommen ist.
Neben diesen organisatorischen und terminlichen Aufgaben stellten sich dem Initiativkreis aber zunehmend auch inhaltliche Probleme. Trotz der verdienstvollen Arbeiten von Regina Müller und vor allem Nika Robrock und Neomi Naor sind nämlich viele Schicksale ehemaliger Dürener Jüdinnen und Juden ungeklärt. Von ihnen heißt es oft nur: Im Osten ermordet. Sollte man sich durch diesen Rest an Ungewissheit davon abhalten lassen, ihrer zu gedenken?
Auch wenn man davon ausgehen muss, dass eine Reihe von Lebensläufen selbst bei entsprechenden Bemühungen für immer ungeklärt geblieben wäre – hier machte sich die jahrzehntelange Untätigkeit der Dürener Lokalgeschichtsschreibung, aber auch der Behörden besonders schmerzlich bemerkbar. So existiert zwar aus der Mitte der 60er Jahre eine „Liste G“ genannte, im Übrigen sehr lückenhafte Zusammenstellung der in Düren ehemals wohnhaften Jüdinnen und Juden, aber niemand weiß, wer sie zusammengestellt hat, warum und auf welcher Grundlage sie angefertigt wurde. Es hat sich aber auch niemand bis Anfang der 90er Jahre weiter darum gekümmert.
Ähnlich verhält es sich mit den anderen Opfergruppen. Weder die Organisationen der Arbeiterbewegung noch die Kirchen haben hier nennenswerte Dokumentations- und Erinnerungsarbeit geleistet. Im Gegenteil: Noch heute werden die Zeugnisse der eigenen Geschichte in einem Maße vernachlässigt, dass man nur noch wütend werden kann.
Barthel Rankers hat in einem kleinen Beitrag für unser Magazin „Spuren“ beschrieben, wie schwierig es ist, auch nur die elementarsten Daten für ein bekanntes Opfer aus den Reihen der Dürener Kommunistischen Partei zu rekonstruieren. Es ist schließlich, durch nicht ganz legale und auf jeden Fall unbürokratische Hilfe eines ostdeutschen Standesamtes, zumindest für die wichtigsten Fragen gelungen.
Auf der anderen Seite zeigen Reaktionen aus der Bevölkerung auf die erste Verlegung, deren Steine an sechs Mitglieder der Familie des Dürener Kinderarztes Dr. Karl Leven in der Hohenzollernstraße 13 und an die drei Mitglieder der Familie Horn in der Schenkelstraße 22 erinnern, dass hier und da noch ein lebendiges Bewusstsein und Erinnern vorhanden ist. Diese kleinen Mosaiksteinchen gilt es zu sammeln und zu bewahren auf dem Weg zu einem vielleicht doch eines Tages einigermaßen vollständigen und aussagekräftigen Bild.
Auch die Bereitschaft vieler Dürener Bürgerinnen und Bürger, die Patenschaft über einen Stolperstein zu übernehmen, und die einstimmigen, zustimmenden Beschlüsse von Kulturausschuss und Rat der Stadt Düren zeigen, dass diese Initiative richtig und wichtig ist.